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Als Blinder unterwegs: Interview mit Klaus Heide

Der Flensburger Klaus Heide ist blind. Im Interview erzählt er, warum wir alle Sehen erst lernen müssen, worauf es bei einer inklusiven Straßenraumgestaltung ankommt und was er von Haltegriffen für Radelnde an Ampeln hält. Als langjähriger Beauftragter für Umwelt und Verkehr im Blinden- und Sehbehindertenverein Schleswig-Holstein (BSVSH) ist er mit Bestimmungen und Möglichkeiten gut vertraut.

Klaus Heide war auch einer der Teilnehmer beim zweiten Barriere-Check von VCD, VdK und Seniorenbeirat Flensburg (mehr).

Übrigens: Rund 1,2 Millionen Menschen in Deutschland sind blind oder sehbehindert, haben also selbst mit Brille oder Kontaktlinsen nicht mehr als 30 Prozent des normalen Sehvermögens.

Herr Heide, wie ist das für Sie, sich als Blinder im Verkehr zu bewegen?

Da möchte ich gern etwas ausholen. Menschen werden mit Augen geboren. Aber, so überraschend das klingt, sehen müssen wir erst lernen. Die Informationen, die unsere 160 Millionen Sehzellen pro Auge alle Zehntelsekunden ans Gehirn senden, müssen ausgewertet und interpretiert werden.

Das Archiv aufbauen: Wie Kinder sehen lernen …

Kinder lernen das spielerisch. Zum Beispiel, wenn es auf dem Boden sitzt und versucht einen Ball zu seinem Gegenüber zu rollen. Erst bewegt der Ball sich gar nicht, dann zu kurz, zu weit und immer in der falschen Richtung. Das Kind gibt nicht auf und versucht es immer wieder. Nach einiger Zeit merkt man, dass Schwung und Richtung genauer werden.
Bei den ersten Schritten stolpert das Kind immer wieder. Es steht auf und probiert es erneut und plötzlich klappt es. Es hat gelernt, dass die dunkle Kante am Boden die Teppichkante ist und da muss man den Fuß hochheben, dann klappt es.
Mit 8 Jahren etwa kann ein Kind die Umgebung beobachten und entscheiden, ob es es schafft, vor einem Fahrzeug über die Straße zu laufen oder zu gehen.

Diese Bilder, verbunden mit Geräuschen, Gerüchen und dem Ertasteten, ergeben das Archiv, mit dem wir auswerten, was wir sehen. Dieses Archiv wächst ein Leben lang. Wenn der Mensch sehbehindert ist oder erblindet, fehlen entscheidende Informationen. Das Archiv ist wertlos und die Person hilflos.
Aus den Sinnen, die mir bleiben - Hören, Riechen, Fühlen - muss ich nun ein neues Archiv aufbauen. Ich muss mit den Ohren und dem Tastsinn "sehen" lernen. Mein Gehirn trainiert, diese Sinneswahrnehmungen auszuwerten. Das ist ein ganz erheblicher Lernprozess, genauso wie beim Kind.

Sehsinn durch andere Sinne ersetzen

Also, Sehbehinderte und Blinde müssen lernen, den Sehsinn durch ihre anderen Sinne zu ersetzen. Was macht es da leichter, was schwerer, sich im öffentlichen Raum zu bewegen?

Ich bin mit dem Blindenstock unterwegs, der macht beim Aufschlagen ein klackerndes Geräusch. Damit höre ich, wie sich die Schallwellen ausbreiten und verändern, wenn ich z.B. an einer Hecke, einer Mauer oder einer Straßeneinmündung vorbeigehe. Ich fühle die Beschaffenheit des Bodens unter der Kugel des Stocks.
Taktile Hinweisgeber wie zum Beispiel Noppen-Platten signalisieren mir: Achtung, hier aufpassen! Ich fühle die Richtung der Sonneneinstrahlung oder des Windes auf der Haut. Ich höre die Geräusche des Straßenverkehrs und registriere, wie andere Verkehrsteilnehmer sich vorbeibewegen.

Wenn nun ein Autofahrer meint, er muss die umliegenden Straßenzüge mit seiner Anlage beschallen, dann höre ich nichts mehr. Dann muss ich stehen bleiben, weil ich keine Orientierung mehr durch die Umgebungsgeräusche habe. Ich kann den Mast der Blindenampel nicht mehr finden und höre das Geräusch für die Richtung der Ampelüberquerung nicht. Laute Gespräche, Telefonate und Motorgeräusche haben einen ähnlichen Effekt.

Umstrittene Kanten kein Muss

Dabei ist es unterschiedlich, was Blinde und Sehbehinderte, die ja noch einen Sehrest haben, brauchen, um selbständig mobil sein zu können?

Ja, Sehbehinderte benötigen Kontraste zur Orientierung. Die Umgebung muss hell genug sein, um Kontraste zu erkennen, d. h. nicht extra hell.
Blinde brauchen ertastbare Gestaltungen zur Orientierung. Kanten, Ecken, verschiedene Pflasterungen und auch “tönende” Ampelmasten.

Ab einer Höhe von 3cm sind Kanten und Stufen für Rollstuhlfahrer ein Problem. Bei Radverkehr können solche Kanten zu Stürzen führen, wenn man seitlich auftrifft. Welche alternativen Möglichkeiten für taktile Markierungen gibt es aus Ihrer Sicht?

Vielfach werden schon Steine mit Noppen, sogenannte Aufmerksamkeitssteine, für die Orientierung von Blinden verwendet. Sie zeigen dem Blinden Gefahrenstellen an. Außerdem ist durch deutlich ertastbare Pflasterungsunterschiede mit Groß- oder Kleinpflaster eine Menge zu erreichen. Wichtig ist dabei, dass sich die Logik der Anwendung dem Nutzer erschließt.

Ampel-Haltegriff: Barriere eingebaut

Mit Stolz wurde in der Presse die Festhaltemöglichkeit für Radfahrer an einigen Ampeln beschrieben ...

Ich sehe das sehr kritisch. Ich habe mir schon mehrfach Schulter oder Brust gestoßen, einmal hat es mich sogar niedergestreckt. Ein Hindernis im Gehbereich von Blinden ist nicht barrierefrei. Da wurde eine Barriere eingebaut.

Wenn Sie die Straßen und Wege in Flensburg nach Wunsch umgestalten könnten, mit welchen drei Dingen würden Sie anfangen?

Da gibt es nur eines. Ich möchte den Planern und Gestaltern erzählen, welche Probleme Blinde und Sehbehinderte haben, damit diese sie bei ihren Überlegungen berücksichtigen können. Die Probleme von Rollstuhlfahrern sind vielen bewusst, die von Blinden und Sehbehinderten sind weit weniger bekannt.

Herr Heide, vielen Dank für das Gespräch!

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  • Barriere-Check am 27.10.2020:
    Die ganze Dokumentation zum Herunterladen: PDF-Datei – mehr

 

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